Das Specialized Turbo Levo war bei seinem Erscheinen 2015 der Trendsetter, wie ein E-Mountainbike künftig zu sein hatte. Durch geschickte Modellpflege ist es das bis heute geblieben. Ein kraftvolles und verlässliches Trailbike mit gut integrierter Technik, das so ziemlich alles mitmacht.
Das war eine Lehre in Sachen Physik: Drei Kilometer vor dem Ziel wechselt die Anzeige auf Rot. Meine Beine bewegen sich bereits seit geraumer Zeit im roten Bereich. Kein Wunder: Wie junge Hunde sind wir während Stunden jede Steigung hochgehetzt. Das nennt man wohl perfektes Timing. Ausgerechnet jetzt lässt die Motorunterstützung spürbar nach, weil der Akku zuneige geht. Steigungen, die ich zuvor buchstäblich hochgeflogen bin, werden nun zur Tortour und im Schneckentempo zurückgelegt. Das kommt davon, wenn man den Akku und das Temperament nicht im Griff hat. Es wäre nämlich durchaus auch anders gegangen. Bei Specialized liesse sich dank «Micro Tune» die Unterstützung auch in Zehnprozent-Schritten einstellen. Doch der Reihe nach.
Während der Bike-Ferien im letzten Herbst bei MTBeer in der Toskana war das Specialized Turbo Levo Comp mein täglicher Begleiter. Rund 50 Kilometer und 1000 Höhenmeter betrugen jeweils die Tagespensen auf den unterschiedlichsten Trails in einem Radius von 30 Kilometer um Massa Marittima. Highlight der Woche bei MTBeer ist jeweils die Tagestour nach Follonica ans Meer, knapp 75 Kilometer und 1660 Höhenmeter. Früh zeichnete sich ab, dass der 700-Wh-Akku des Turbo Levo im Trailmodus da nicht reichen wird. Deshalb wurde er über Mittag an der Steckdose in 70 Minuten von 39 auf 68 Prozent nachgeladen. Mein Übermut war schliesslich verantwortlich, dass ich auf den letzten Kilometern dann doch in den 10-Prozent-Reservemodus hineingefahren bin. Im steilen Gelände war das kein Vergnügen, denn die Motorleistung nimmt im letzten Akkuzehntel auf allen Unterstützungsstufen deutlich spürbar ab. Mit den letzten zwei Prozent bin ich schliesslich in Massa Marittima angekommen.
Im Turbomodus und auch im Trailmodus, wenn das Gelände knifflig ist, können eben auch die ausgeklügelsten Elektroantriebe nicht zaubern, wenn der Fahrer mehr als 80 Kilogramm wiegt und zügig vorankommen will. Sie fordern ihren Tribut beim Stromverbrauch. Der kräftige, flüsterleise Brose-Antrieb macht da keine Ausnahme. Da hilft nur eines: Mit möglichst hoher Kadenz und weniger Kraft pedalieren. Das hilft sowohl im Eco- als auch im Turbo-Modus. Mit hoher Tretfrequenz ist die Unterstützung denn auch besonders gut spürbar. Es stellt sich ein erhebendes Gefühl ein, wie wenn man Flügel hätte.
Dieses gute Gefühl erlebt man auf dem Turbo Levo auch bergab oder geradeaus auf verwinkelten Trails. Man spürt die Gene von etlichen Downhill-Weltmeistertiteln, die Specialized in den letzten Jahren errungen und auch dem Turbo Levo implantiert hat. Das Bike ist sehr wendig, was mit Sicherheit auch der MX- beziehungsweise Mullet-Bauweise zuzuschreiben ist. Wie an Motocross-Motorrädern ist das Hinterrad kleiner als das Vorderrad. Das Fahrverhalten wird so wendiger. Das grössere Vorderrad sorgt dennoch für guten Abrollkomfort. Der Hammer ist die Fox-Federgabel mit ihren enormen Reserven und die variable Rahmengeometrie als Ganzes. Im steilen Gelände stellt sich damit kein ungutes Überschlagsgefühl ein. Die Gabel ist enorm schluckfreudig und bietet mit 16 Zentimetern Federweg genügend Reserven. Der Dämpfer für die Hinterradfederung muss bei schweren Fahrern mit viel Druck gepumpt werden, damit das Heck nicht wegtaucht und ein schwammiges Gefühl entsteht. Dabei gilt es auch, den Reifendruck entsprechend zu erhöhen...
Kommentar
Mit dem Turbo Levo der jüngsten Generation hat
Specialized nochmals eine Schippe draufgelegt bezüglich
Systemintegration, Design und Fahreigenschaften. Auf die Verlegung der
Kabel durch Vorbau und Lenkrohr wurde sinnigerweise aber verzichtet. So
lässt sich die Sitzlänge durch Auswechseln des Vorbaus im Handumdrehen
kostengünstig anpassen. Gefallen haben ausserdem der kräftige,
geräuschlose Motor, die Feinabstufung der Unterstützung, die vielseitige
«Mission Control»-App, das variable, schluckfreudige Fahrwerk, die
Werkzeuge im Gabelschaft und, dass sich der 700-Wh-Akku zum Laden
relativ leicht ausbauen lässt. Weniger gut gefallen hat die billig
wirkende Plastikklappe beim Tretlager, hinter der sich die magnetische
Ladebuchse befindet. Bei knapp 5000 Franken beginnt der Turbo-Levo-Spass
mit Alu-Rahmen. In Carbon werden mindestens 6800 Franken fällig, das
Testbike hätte 9000 Franken gekostet. Je nach Ausrüstung gehen die
Preise hoch bis 12‘000 Franken mit kabelloser Schaltung und versenkbarer
Sattelstütze in der SL (super leicht)-Version.
Specialized
Den kompletten Fahrtest gibt es im Magazin easybiken zu lesen.
Text und Fotos: Martin Platter
aus: easybiken, Heft Nr. 1/2023